Sehr geehrte/r Herr/Frau Oberstaatsanwältin,

vielen Dank für Ihre Antwort. Ihren Ausführungen kann ich folgen. Wie Sie schreiben, ist die Verhältnismäßigkeit von Angriff und Abwehr noch genau zu prüfen.

In diesem Zusammenhang ist mir aufgefallen, dass Sie einerseits schreiben, dass eine Abwägung der Rechtsgüter im Rahmen der Notwehr nicht stattfindet. Im Widerspruch dazu legen Sie den rechtswidrigen Fall des unerträglichen Missverhältnisses zwischen dem angegriffenen Rechtsgut und der drohenden Rechtsgutverletzung dar. Dieses Missverhältnis halten Sie dann für "eher fernliegend", sofern sich die Einlassung des Beschuldigten (ich nehme an, in Notwehr gehandelt zu haben) bestätigen sollte, wofür es keine unbeteiligten Zeugen gibt. Bzw. wenn Sie es ihm nicht widerlegen können. Das eignet sich nicht, Vertrauen in das Rechtssystem herzustellen.

Ausführlich gehen Sie auch auf den Sachverhalt der Absichtsprovokation ein. Im Gegensatz zu Ihnen kann ich nicht nachvollziehen, dass der Beschuldigte nicht ernsthaft mit einem Angriff des Geschädigten gerechnet hat, nachdem er ihn dazu aufgefordert hatte. Spätestens hier ist der Beschuldigte seiner Verantwortung für die Situation in keiner Weise nachgekommen. Im krassen Gegenteil sogar provozierte er den Geschädigten offenbar absichtsvoll, und wägte wohl eher planvoll ab, sich darauf verlassen zu können, dass die Türen der Straßenbahn alsbald schließen würden und dass gegebenenfalls die Begleiterin des von ihr schon einmal beruhigten Geschädigten noch einmal für ihn, den Beschuldigten, einspringen würde. Gegen diesen spricht hier zudem, dass es keine Zeugin/keinen Zeugen für die Bemerkung des Geschädigten gibt, wohl aber für die Aufforderung des Beschuldigten zur tätlichen Auseinandersetzung. Dieser Sachverhalt allein erfüllt den Tatbestand der Absichtsprovokation. Diese wird verstärkt und keinesfalls gemildert durch den Umstand, dass der Beschuldigte gerade (bzw. auch) dann absichtsvoll provozierte, als er sich fälschlicherweise in einer Sicherheit zu befinden glaubte, die ihm eine Absichtsprovokation folgenlos ermöglichen würde, was durch die Beobachtungen des Zeugen am Bahnsteig nachgewiesen ist. Aus dieser folgte aber der Erlass eines Haftbefehls.

Quasi vollkommen unberücksichtigt lassen Sie die in der Presse beschriebenen vorausgegangenen Vorfälle in der Straßenbahn. Die Überprüfung dieser Vorfälle resultieren in der Beantwortung der banalen Frage: kann sich der Geschädigte auf die Einhaltung einer für alle Fahrgäste verbindlichen Benutzungsordnung berufen oder nicht, und wenn ja, inwieweit hat der Beschuldigte gegen die Rechtsordnung hier schon verstoßen und den Geschädigten durch Nichtbeachtung seiner ihm zustehenden Rechte, ggfs. auch durch Verspotten usw. bereits geschädigt bzw. auch provoziert. Es spricht viel dafür, dass schon hier etwas sehr ähnliches geschehen ist und in diesem Fall jedenfalls gegen den Beschuldigten, dass die Begleiterin des Geschädigten "ihn zuvor bereits erfolgreich zurückgehalten haben soll", wie Sie schreiben.

Das Vierkantholz hatte sich der Beschuldigte insofern zuvor besorgt, als dass er in der Straßenbahn nicht angegriffen wurde, eine Notwehrsituation, die das Ergreifen des Vierkantholzes rechtfertigte, hier also definitiv nicht gegeben war. Im Gegenteil trägt der Beschuldigte damit zur Eskalation bei, ein Aspekt, den Sie ebenfalls nicht berücksichtigen. Mir scheint, dass vielmehr zu prüfen ist, inwieweit der inzwischen offenbar durch den Beschuldigten absichtsvoll zunehmend emotional erregte Geschädigte dadurch zum Griff zu seinem Gürtel veranlasst wurde, hierbei selbst gar in Notwehr handelte, als ihn sein bewaffneter Gegenüber zudem noch zur tätlichen Auseinandersetzung aufforderte. Selbst ein Präventivschlag seitens des Geschädigten, der den Beschuldigten effektiv außer Gefecht gesetzt hätte, ist damit zu diesem Zeitpunkt jedenfalls zu rechtfertigen. Dieser kann kaum zu spät gekommen sein (wo der Geschädigte heraus kann, kann der Beschuldigte hinein), war aber nicht effektiv. Bewaffnet zum tätlichen Angriff aufzufordern, ist es allein Sache des Beschuldigten für seine Sicherheit zu sorgen. Hier einer falschen eigenen Einschätzung zu unterliegen bedeutet nicht, sich in einer Notwehrsituation zu befinden.

Schon das Ergreifen des Vierkantholzes erfüllt in Zusammenhang mit der dann fortgesetzten Eskalation, zu der der Beschuldigte ein erhebliches Maß beigetragen haben muss, wie seine abschließende, unversöhnliche Aufforderung zur tätlichen Auseinandersetzung belegt, abermals den Tatbestand der Absichtsprovokation. Aus dieser folgte, wie schon gesagt, der Erlass eines Haftbefehls.

Meine von Ihnen so aufgefasste Dienstaufsichtsbeschwerde halte ich somit aufrecht. Ich wiederhole mein Verlangen, diesen gefährlichen Jugendlichen umgehend aus dem Verkehr zu ziehen.

Mit freundlichen Grüßen




Und so ging es weiter:

Gut einen Monat später erhielt ich Antwort. Wie nicht anders zu erwarten, hielt der/die Oberstaatsanwältin, der/die sich nun als Vertreter männlichen Geschlechts zu erkennen gab, an seiner Beurteilung fest. Darüber hinaus monierte er meine Schilderung bezüglich des von mir genannten Präventivschlages (s. o.), dieser sei "um einen vermuteten oder noch zu erwartenden Angriff vorher zu stoppen, [...] durch den Rechtfertigungsgrund der Notwehr nicht mehr gedeckt".




Auch dazu gab es noch einmal eine Rückmeldung meinerseits, die aber nur noch ein, bezüglich des anfänglichen Endergebnisses, belangloses Schreiben des Oberstaatsanwaltes zur Folge hatte:

Sehr geehrter Herr Oberstaatsanwalt [...],

Ihr Schreiben vom [...] habe ich erhalten.

Natürlich habe ich nicht erwartet, dass ein Rechtssystem, das das Wohl von Verbrechern zu oberster Priorität erklärt zu haben scheint, einem fast tot geprügelten, lebenslänglich schwerst Gezeichneten gerecht werden kann. Ihr Schreiben interpretiere ich so, dass das nicht Ihr, noch offenbar überhaupt ein juristisches Anliegen ist. Dahingehend verstehe ich auch Ihre Ausführungen zu dem von mir genannten Präventivschlag. Obwohl die Situation von mir als mögliche Notwehrsituation ausführlich beschrieben wurde, ist Ihre Bewertung gemäß eines Wortes und dessen Sachverhalts in den Gesetzestexten bereits gefallen: Sie schreiben, dass die Abwehr eines zu erwartenden Angriffs durch den Rechtfertigungsgrund der Notwehr nicht mehr gedeckt sei. Laut rechtsanwaltlicher Auskunft ist ein Angriff im Sinne einer dann folgenden Notwehrhandlung im Gegenteil aber auch dann gegenwärtig, wenn er unmittelbar bevorsteht. Das zum Verhalten des Täters Gesagte, seine Aufforderung zum Angriff usw. möchte ich hier nicht wiederholen. Bitte lesen Sie dies ggfs. noch einmal in meinem Schreiben vom 02. Dezember nach.

Ich denke nicht, dass es Argumente gegen die von mir in meinem Schreiben vom 02. Dezember dargelegten Sachverhalte zur Absichtsprovokation geben kann. Wahrscheinlich gibt es andere Sachverhalte, in denen eine Absichtsprovokation nicht gegeben ist. So kann ich Zweifel nicht ausräumen, dass es sich z. B. vielmehr als Auslegungssache oder gar unlauteres Zugeständnis an den Beschuldigten handelt, zu meinen, dass dieser sich in Sicherheit wiegte, da er damit rechnen konnte, dass sich die Türen der Straßenbahn alsbald schließen würden. Hätte er sich tatsächlich in der von Ihnen dargestellten Sicherheit befunden, hätte er das Vierkantholz bereits weggeworfen. Vielmehr bestand also die konkrete Gefahr, dass der unmittelbar vor dieser Situation zum Angriff auffordernde Beschuldigte gegen den Geschädigten noch tätlich werden würde.

Auch Ihre Argumentation bezüglich des Fehlens eines dringenden Tatverdachts begründen Sie u. a. damit, dass der Beschuldigte trotzdem er den Geschädigten zu seiner Handlung aufgefordert hatte, mit einem "Angriff des Geschädigten ... nicht ernsthaft [...] gerechnet haben dürfte". Wie ich bereits hinreichend dargelegt habe, ist dies nicht nachvollziehbar und nur mit dem inakzeptablen Zugeständnis einer Verantwortungslosigkeit für das Geschehen seitens des Beschuldigten zu rechtfertigen. In Zusammenhang mit einer bislang ungeklärten aber möglichen Notwehrsituation wie von mir beschrieben, besteht insofern zweifellos ein dringender Tatverdacht.

Auf die noch ausstehenden Ergebnisse der staatsanwaltlichen Ermittlungen bin ich gespannt. Informieren Sie mich!

Mit freundlichen Grüßen